Mittwoch, 17. Mai 2017

Den Killer nicht vergessen 
Die Jagd auf Materialien zum Schulanfang

In den letzten Semesterferien habe ich als Aushilfe in einem kleinen Schreibwarengeschäft gearbeitet. Zum Schuljahresanfang herrschte dort Hochsaison, denn in jedem neuen Schuljahr, jeder Schule, jedem Lehrer, jedem Fach werden neue und andere Materialien benötigt. Oft bekommen die Kinder eine Liste, damit sie alles auf einmal vor Schuljahresbeginn besorgen können. Eigentlich ist das eine gute Idee. Lehrerwünsche sorgen dafür, dass alle Kinder in etwa das Gleiche besitzen. Die Kinder haben verschiedene Heftfarben, an denen sie die Fächer unterscheiden können. Dennoch sind die Fachgeschäfte voll geplagter Eltern mit ihren Kindern und einer insbesondere in der Grundschule langen Einkaufsliste, die für einen langen und schwierigen Einkauf sorgt.

Geschieht das aber wirklich nur durch die Menge des Schreibwarenangebots, wie man vielleicht meinen möchte? – Nein. Im Fachgeschäft wird mit der Inhaberin und manchmal mehreren Mitarbeiterinnen gerätselt, was genau die jeweilige listenstellende Lehrkraft wohl gemeint haben könnte. Dabei ist es manchmal zutiefst erstaunlich, mit welchen mangelhaften und fehlerhaften Angaben Eltern und Kind von den Schulen zum Einkaufen geschickt werden.
...am Schattenrand des Verstands
Die Lehrerinnen und Lehrer wünschen ganz bestimmte Utensilien, etwas anderes darf es auf keinen Fall sein und dann fehlt schon bei den Heften jede Angabe einer Lineatur: Die eine Lehrkraft möchte „ein Heft mit Rand“. Weiß muss er sein, aber das steht mit keinem Wort da. Eine andere Lehrperson möchte „ein Heft mit Schattenrand“. Wieder eine andere „ein Heft mit Scheinrand“. Dass Schatten- und Scheinrand vollkommen dasselbe sind, können Eltern nicht wissen, sie erörtern diese Frage verzweifelt in Extra-Internetforen. Anstatt einem „Heft mit Rahmen“ verlangt eine ganz extravagante Lehrkraft ein Heft mit umlaufendem, dann noch eines mit angedeutetem Rand. Eine Grundschullehrerin bestellt in der Liste ein „Schreiblernheft“. Quer soll es sein und an jedem Zeilenanfang soll für die Kleinen ein kleines Häuschen abgebildet sein. Diese Kleinigkeiten erfahren die Eltern jedoch ganz nebenbei erst am zweiten Schultag, als das Heft in der Schule benötigt wird. Eine ganz einfallsreiche Lehrkraft wünscht einfach ausdrücklich, dass die Kinder zum Schuljahresanfang „ein leeres Heft“ mitbringen. Die Eltern und das Schulkind zeigen diese Formulierung fast lachend im Geschäft vor und stehen dennoch verzweifelt vor der Frage, ob das Blanko-Heft, das der gesunde Menschenverstand in diesem Fall vorschlägt, wirklich richtig ist.

„Schon meine Mutter regte sich über die Sonderwünsche meiner Lehrer auf“, schreibt eine Mutter in einem Rat- und Hilfeforum für geplagte Mütter. Sonderwünsche hin oder her: Über Vor- und Nachteile der jeweils verlangten Lineatur in einem Fach oder bestimmte Vorlieben bei der Korrektur kann man streiten. Die Mütter in den Foren haben da durchaus ein gewisses Verständnis. Aber ist es denn nicht ein Armutszeugnis, dass Menschen, die Kinder zu einer gewissen Präzision und Klarheit im Formulieren anleiten sollen, solche miss- oder unverständlichen Angaben machen? Angaben, die selbst von Fachleuten im Schreibwarenladen nur durch jahrelange Gewöhnung an das „Listendeutsch“ richtig interpretiert werden können?
Was könnte die Lehrkräfte zu dieser Methode bewegen? Wollen sie etwas Bestimmtes erreichen?

Verwirrung? Überlegenheit? Respekt vor dem Fach oder der Tätigkeit? Wollen sie vielleicht Eltern und Kinder zum gemeinsamen intellektuellen Raten am Familienesstisch anregen? Eine kleine Interpretationsaufgabe für die langen Ferien stellen? Die Kompetenz zur Kommunikation mit anderen Müttern oder Verkäuferinnen stärken? Die heimische Wirtschaft ankurbeln, weil die ratlosen Familien doch lieber in teureren Schreibwarenläden mit Beratung einkaufen als beim Discounter?

Zu banal scheint die Überlegung, dass vielleicht einfach Gedankenlosigkeit, ja einfach Faulheit, vor solchen unklar formulierten Wünschen steht. Vielleicht ist es das Motto für das nächste Schuljahr: Warum einfach, wenn es auch kompliziert geht? Eindeutiges, erleichtertes Erkennen bieten die Lineaturen, die groß vorne auf jedem Heft abgebildet sind. Als ungelernte Aushilfe im Schreibwarenladen kennt man sie nach einem Tag auswendig, im Notfall kann man eine Übersicht ganz bequem und schnell vom Schreibtisch aus im Internet einsehen. Es ist unbegreiflich, weshalb dann Lehrkräfte so etwas offenbar nicht wissen, obwohl sie doch jeden Tag ihre Lieblingsheftformate in der Hand haben … Vielleicht ist es doch Absicht? Auf jeden Fall ist es die erste Frage im neuen Schuljahr, auf die man weder als Schüler noch als Eltern eine Antwort weiß …

Einige Lehrkräfte halten sich ja zum Trost immerhin an Lineaturen, wenn auch an die aus ihrer eigenen Schulzeit. Sie verlangen „ein großes Heft Lineatur 4“, in der neueren Zeit unter Lineatur 21 zu finden. Oder „2x das braune Brunnenheft“, das seit mindestens zehn Jahren grün ist. Andere erfinden einfach ihre gewünschte Lineatur, zumindest muss man es so sehen, wenn man nicht davon ausgehen will, dass sich in jeder Zeile der Liste ein Schreibfehler befindet.
Sieht man rot, Tintentot
Und der Spaß oder die Frustration, je nach Temperament und Sozialkompetenz, geht noch weiter. Ein Heftumschlag wird in hellgelb gewünscht, einer in dunkelgelb. Eine Lehrerin verlangt gar einen weißen Papierumschlag. Eine Mutter klagt, sie sei wegen einem „kleinen Umschlag in weinrot“ bereits durch die ganze Stadt gefahren. Ihrer gestressten Gesichtsfarbe kann man entnehmen, dass sie bereits rot sieht – oder schwarz, denn ein solcher Umschlag ist nirgendwo lieferbar …

Hat man alle Hefte und Umschläge endlich erworben geht es unbarmherzig weiter. Die Kinder sollen einen „Tintentot“ im Mäppchen mitführen, wohl bemerkt mit einem „t“ am Ende, wie töten. Anhand des Schreibfehlers soll wohl besonders authentisch gezeigt werden, wie nötig man ihn in der Schule hat.  Und während ganz unten auf der Liste freundlich mahnend steht: „Bitte sorgen Sie dafür, dass Ihr Kind spätestens am zweiten Schultag mit allen Materialien ausgestattet ist, damit wir stressfrei und entspannt in ein neues Schuljahr starten können“, spricht der Gesichtsausdruck der Eltern Bände und drückt einen weiteren Wunsch einer Lehrkraft auf einer Liste aus: „Den Killer nicht vergessen!“
Allerdings in einem etwas anderen Sinn…