Die Jagd auf Materialien zum Schulanfang
In den letzten Semesterferien
habe ich als Aushilfe in einem kleinen Schreibwarengeschäft gearbeitet. Zum Schuljahresanfang
herrschte dort Hochsaison, denn in jedem neuen Schuljahr, jeder Schule, jedem
Lehrer, jedem Fach werden neue und andere Materialien benötigt. Oft bekommen
die Kinder eine Liste, damit sie alles auf einmal vor Schuljahresbeginn
besorgen können. Eigentlich ist das eine gute Idee. Lehrerwünsche sorgen dafür,
dass alle Kinder in etwa das Gleiche besitzen. Die Kinder haben verschiedene
Heftfarben, an denen sie die Fächer unterscheiden können. Dennoch sind die
Fachgeschäfte voll geplagter Eltern mit ihren Kindern und einer insbesondere in
der Grundschule langen Einkaufsliste, die für einen langen und schwierigen
Einkauf sorgt.
Geschieht das aber wirklich nur
durch die Menge des Schreibwarenangebots, wie man vielleicht meinen möchte? –
Nein. Im Fachgeschäft wird mit der Inhaberin und manchmal mehreren Mitarbeiterinnen
gerätselt, was genau die jeweilige listenstellende Lehrkraft wohl gemeint haben
könnte. Dabei ist es manchmal zutiefst erstaunlich, mit welchen mangelhaften
und fehlerhaften Angaben Eltern und Kind von den Schulen zum Einkaufen
geschickt werden.
...am Schattenrand des Verstands
Die Lehrerinnen und Lehrer
wünschen ganz bestimmte Utensilien, etwas anderes darf es auf keinen Fall sein
und dann fehlt schon bei den Heften jede Angabe einer Lineatur: Die eine
Lehrkraft möchte „ein Heft mit Rand“. Weiß muss er sein, aber das steht mit keinem
Wort da. Eine andere Lehrperson möchte „ein Heft mit Schattenrand“. Wieder eine
andere „ein Heft mit Scheinrand“. Dass Schatten- und Scheinrand vollkommen
dasselbe sind, können Eltern nicht wissen, sie erörtern diese Frage verzweifelt
in Extra-Internetforen. Anstatt einem „Heft mit Rahmen“ verlangt eine ganz
extravagante Lehrkraft ein Heft mit umlaufendem, dann noch eines mit
angedeutetem Rand. Eine Grundschullehrerin bestellt in der Liste ein „Schreiblernheft“.
Quer soll es sein und an jedem Zeilenanfang soll für die Kleinen ein kleines
Häuschen abgebildet sein. Diese Kleinigkeiten erfahren die Eltern jedoch ganz
nebenbei erst am zweiten Schultag, als das Heft in der Schule benötigt wird.
Eine ganz einfallsreiche Lehrkraft wünscht einfach ausdrücklich, dass die
Kinder zum Schuljahresanfang „ein leeres Heft“ mitbringen. Die Eltern und das
Schulkind zeigen diese Formulierung fast lachend im Geschäft vor und stehen
dennoch verzweifelt vor der Frage, ob das Blanko-Heft, das der gesunde
Menschenverstand in diesem Fall vorschlägt, wirklich richtig ist.
„Schon meine Mutter regte sich
über die Sonderwünsche meiner Lehrer auf“, schreibt eine Mutter in einem Rat-
und Hilfeforum für geplagte Mütter. Sonderwünsche hin oder her: Über Vor- und
Nachteile der jeweils verlangten Lineatur in einem Fach oder bestimmte
Vorlieben bei der Korrektur kann man streiten. Die Mütter in den Foren haben da
durchaus ein gewisses Verständnis. Aber ist es denn nicht ein Armutszeugnis,
dass Menschen, die Kinder zu einer gewissen Präzision und Klarheit im
Formulieren anleiten sollen, solche miss- oder unverständlichen Angaben machen?
Angaben, die selbst von Fachleuten im Schreibwarenladen nur durch jahrelange
Gewöhnung an das „Listendeutsch“ richtig interpretiert werden können?
Was könnte die Lehrkräfte zu dieser Methode bewegen? Wollen sie etwas Bestimmtes erreichen?
Was könnte die Lehrkräfte zu dieser Methode bewegen? Wollen sie etwas Bestimmtes erreichen?
Verwirrung? Überlegenheit?
Respekt vor dem Fach oder der Tätigkeit? Wollen sie vielleicht Eltern und
Kinder zum gemeinsamen intellektuellen Raten am Familienesstisch anregen? Eine
kleine Interpretationsaufgabe für die langen Ferien stellen? Die Kompetenz zur
Kommunikation mit anderen Müttern oder Verkäuferinnen stärken? Die heimische
Wirtschaft ankurbeln, weil die ratlosen Familien doch lieber in teureren
Schreibwarenläden mit Beratung einkaufen als beim Discounter?
Zu banal scheint die Überlegung,
dass vielleicht einfach Gedankenlosigkeit, ja einfach Faulheit, vor solchen
unklar formulierten Wünschen steht. Vielleicht ist es das Motto für das nächste
Schuljahr: Warum einfach, wenn es auch kompliziert geht? Eindeutiges,
erleichtertes Erkennen bieten die Lineaturen, die groß vorne auf jedem Heft
abgebildet sind. Als ungelernte Aushilfe im Schreibwarenladen kennt man sie
nach einem Tag auswendig, im Notfall kann man eine Übersicht ganz bequem und
schnell vom Schreibtisch aus im Internet einsehen. Es ist unbegreiflich,
weshalb dann Lehrkräfte so etwas offenbar nicht wissen, obwohl sie doch jeden
Tag ihre Lieblingsheftformate in der Hand haben … Vielleicht ist es doch
Absicht? Auf jeden Fall ist es die erste Frage im neuen Schuljahr, auf die man
weder als Schüler noch als Eltern eine Antwort weiß …
Einige Lehrkräfte halten sich ja zum
Trost immerhin an Lineaturen, wenn auch an die aus ihrer eigenen Schulzeit. Sie
verlangen „ein großes Heft Lineatur 4“, in der neueren Zeit unter Lineatur 21
zu finden. Oder „2x das braune Brunnenheft“, das seit mindestens zehn Jahren
grün ist. Andere erfinden einfach ihre gewünschte Lineatur, zumindest muss man
es so sehen, wenn man nicht davon ausgehen will, dass sich in jeder Zeile der
Liste ein Schreibfehler befindet.
Sieht man rot, Tintentot
Und der Spaß oder die
Frustration, je nach Temperament und Sozialkompetenz, geht noch weiter. Ein
Heftumschlag wird in hellgelb gewünscht, einer in dunkelgelb. Eine Lehrerin
verlangt gar einen weißen Papierumschlag. Eine Mutter klagt, sie sei wegen
einem „kleinen Umschlag in weinrot“ bereits durch die ganze Stadt gefahren.
Ihrer gestressten Gesichtsfarbe kann man entnehmen, dass sie bereits rot sieht
– oder schwarz, denn ein solcher Umschlag ist nirgendwo lieferbar …
Hat man alle Hefte und Umschläge
endlich erworben geht es unbarmherzig weiter. Die Kinder sollen einen
„Tintentot“ im Mäppchen mitführen, wohl bemerkt mit einem „t“ am
Ende, wie töten. Anhand des Schreibfehlers soll wohl besonders authentisch gezeigt werden,
wie nötig man ihn in der Schule hat. Und
während ganz unten auf der Liste freundlich mahnend steht: „Bitte sorgen Sie
dafür, dass Ihr Kind spätestens am zweiten Schultag mit allen Materialien
ausgestattet ist, damit wir stressfrei und entspannt in ein neues Schuljahr
starten können“, spricht der Gesichtsausdruck der Eltern Bände und drückt einen
weiteren Wunsch einer Lehrkraft auf einer Liste aus: „Den Killer nicht
vergessen!“
Allerdings in einem etwas anderen Sinn…
Allerdings in einem etwas anderen Sinn…